
Das Gebäude 222 Bowery wurde 1884 fertiggestellt. Zu der Zeit wimmelte es in der Gegend von billigen Kneipen, Absteigen, Obdachlosen und Prostituierten. Der erste Mieter war das Young Men’s Institute, ein Vorläufer der YMCA (Young Men’s Christian Association). Hier konnten junge Männer in „christlicher Atmosphäre“ Fortbildungskurse besuchen, Sport treiben und anderen, von der religiösen Vereinigung als „charakterfördernd und mit dem Glauben im Einklang stehend“ bezeichneten Aktivitäten nachgehen. Das YMI sollte bei den jungen Männern den negativen Einflüssen des Viertels entgegenwirken.
Das YMI schloss 1932, und in den Jahren danach begann das Gebäude für Künstler interessant zu werden, die große, günstige Atelierräume mit viel Sonnenlicht suchten. Als einer der ersten zog der französische Maler Fernand Léger 1940 hier ein, eben wegen der niedrigen Mieten – es mutet ironisch an, wenn man bedenkt, dass der Rekordpreis für eines seiner Werke heute bei 40 Millionen Dollar liegt.

1958 eröffnete auch der damals bereits weltweit bekannte Maler Mark Rothko ein Studio dort, denn hier gab es in der ehemaligen Turnhalle genug Platz für seine aktuelle Auftragsarbeit – eine Serie von Wand füllenden Gemälden für das renommierte Restaurant Four Seasons. Der bahnbrechende Rothko und das konservative Four Seasons waren eine seltsame Paarung, und warum er den Auftrag akzeptierte, ist schwer zu verstehen (das Geld brauchte er sicher nicht). Das Projekt wurde ihm auch zunehmend verhasst und er nahm sich am Ende vor, dass die Gemälde „jedem der Geschäftsleute, die den Raum betreten, den Appetit verderben sollen“. Als er die Werke dann im Restaurant hängen sah, wurde es dem Maler zu viel. Er gab sein Honorar von 35.000 Dollar zurück und ließ die Gemälde abtransportieren. Heute hängen die Bilder dieser Serie in der Tate Gallery of Modern Art in London, der National Gallery in Washington und dem Kawamura Museum in Japan. Rothko verließ das Bowery-Studio im Jahr 1962.

Um 1965 herum begann die schrillste und bekannteste Phase von 222 Bowery. Das Haus wurde ein Ort, wo viele Menschen, die in der Kunstwelt New Yorks etwas darstellten oder darstellen wollten, Zeit verbrachten. Warhol veranstaltete Partys dort. Der berühmte Poet Allen Ginsberg war ein regelmäßiger Besucher der Kommune. Aufsehen erregten besonders die Lesungen von William S. Burroughs, meist multimediale Events mit Licht, Klängen oder Filmen im Hintergrund – sehr innovativ für diese Zeit. Die „New York Times“ beschrieb Burroughs Lesungen 1965 in einem Artikel als „unwiderstehlich fesselnd und seltsam berührend“. Die Lichteffekte wurden von der „Dream Machine” des Künstlers Brion Gysin erzeugt. Die „Traummaschine“ war im Prinzip ein rotierendes Licht, von dem man sagte, dass es visuelle Halluzinationen hervorriefe, da es das Auge einer Frequenz von 8 bis 13 Blitzen in der Sekunde aussetzte. Nicht nur die Macher, auch die Zuhörer bei Burroughs Lesungen waren oft Künstler, die schon zu den wichtigsten ihrer Generation zählten oder in den kommenden Jahren den Durchbruch schaffen sollten. Unter anderem die Fotografen Diane Arbus und Richard Avedon, die Autoren Frank O’Hara, Gregory Corso und Susan Sontag, die Maler Larry Rivers und Barnett Newman und der Bildhauer Marisol. Manche Künstler blieben gleich und wohnten zeitweise in 222 Bowery, zum Beispiel die Pop-Art-Ikone Roy Lichtenstein. Eine maßgebliche Rolle in der „Verwaltung“ des Gebäudes spielte der Tonkünstler John Giorno, in dessen Besitz 222 Bowery später überging.
1974 zog der den Großteil seines Lebens heroinabhängige Burroughs fest in 222 Bowery ein. Seine Behausung war ein sich halb im Untergrund befindender Teil des Gebäudes, der immer noch die Umkleide- und Duschräume des YMI beherbergte. Bald sprach man nur noch vom „Bunker“, wenn es um Burroughs’ Domizil ging.

Burroughs’ Werk war oft radikal, neu und herausfordernd, auf seine Persönlichkeit hingegen trifft dies überhaupt nicht zu. Der Mann, der seit den frühen 50ern über Drogen und Homosexualität (er war schwul) schrieb, als das noch als hoch subversiv galt, war ein schüchterner, leiser, sehr privater Mensch, der sich ungemein konservativ kleidete. (Es gibt kaum Bilder, die ihn ohne Jackett oder Krawatte zeigen, meist trug er beides.) Der Autor Graham Caveney wählte nicht ohne Grund den Titel „Gentleman Junkie“ für seine Biografie von Burroughs.
Die Musikerin und Dichterin Patti Smith, selbst eine Ikone in der New Yorker Kunstszene, lebte zu dieser Zeit im Chelsea Hotel mit dem schwulen Fotografen Robert Mapplethorpe zusammen, der auch noch zu Weltruhm gelangen sollten und 1989 an AIDS starb. (Es muss was mit der Nummer 222 sein, denn das war auch die Hausnummer des Chelsea Hotel auf der West 23rd Street.) Sie erinnert sich in ihren 2010 erschienen Memoiren „Just Kids“ an die langen Spaziergänge zum Bunker von Burroughs. „Man konnte das Gebäude schon von weitem an den brennenden Müllbehältern erkennen, die Obdachlose zum Kochen und Wärmen dort aufgereiht hatten.“ Smith, die zu diesem Zeitpunkt oft im Rockclub CBGB ganz in der Nähe auftrat, kannte Burroughs gut. Sie hatte ihm vor dem Chelsea Hotel schon oft ein Taxi gerufen, wenn er wieder einmal zu viel getrunken hatte. Smith reservierte Burroughs auch einen Stammtisch im CBGB, wo er damals noch unbekannte Bands wie Blondie, die Ramones oder die Talking Heads sehen konnte.
In den 80er Jahren stießen der Graffitikünstler Keith Haring und der Maler Jean-Michel Basquiat, die beide jung zu Ruhm kamen und jung starben, zu dieser losen Gruppe. (Mit 73 Jahren begann Burroughs übrigens auch selbst noch zu malen – Sujet seiner Bilder waren oft seine geliebten Schusswaffen.)
Burroughs selbst zog in dieser Zeit nach Kansas zurück. John Giorno hielt den „Bunker“ für die gelegentlichen Besuche des alten Schriftstellers genau so für ihn bereit, wie er ihn verlassen hatte. Burroughs’ in den 50er Jahren als Groschenromane veröffentlichte Werke „Naked Lunch“ und „Junkie“ wurden nun wiederentdeckt, Literaturkritiker bezeichnetet den alten Mann als einen der wichtigsten amerikanischen Autoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und Burroughs wurde spät im Leben zu einer Ikone der Popkultur, die auf Plattencovern und in Werbespots für Nike auftauchte. Rockstars wie Kurt Cobain zollten ihm ihre Verehrung.

In den 90er Jahren wurde 222 Bowery in Eigentumslofts unterteilt. Das Äußere wurde jedoch im Original belassen und steht mittlerweile unter Denkmalschutz. Burroughs’ Bunker – nur unter dieser Bedingung stimmte Giorno der Umwandlung in Wohnlofts zu – musste weiter erhalten werden. Und nun steht sie also noch 17 Jahre nach seinem Tod, die nahezu fensterlose Höhle mit Wänden voller Zielscheiben und stapelweise Büchern und vergilbten Magazinen. Zwischen abgetragenen Schuhen, einer handbestickten Steppdecke, vielen hölzernen Spazierstöcken, Windrädchen und Totenkopfkerzen steht Burroughs’ alte Schreibmaschine.