Ein Engel in Queens

An jedem Wochentag von 7 Uhr morgens an versammeln sich Tagelöhner, oft müde und kaputt aussehend, an der Ecke Roosevelt Avenue und 73th Street im Jackson-Heights-Viertel von Queens. Über ihnen rattert alle fünf Minuten die U-Bahn, die hier überirdisch verläuft. Es sind größtenteils hispanische Immigranten, die hoffen, von einer der kleinen Baufirmen, die das wohlhabende, östlich gelegene Long Island bedienen, Arbeit für den Tag zu bekommen. Kriegt man sie, ist die Arbeit hart und die Bezahlung schlecht, aber schlimmer für die Männer sind die Tage, an denen nur wenig los ist.

„Es ist schrecklich. Wenn es keine Arbeit gibt, kann ich nichts heimschicken, mitunter reicht das Geld nicht einmal für mein Essen. Wenn es Jorge nicht gäbe, würde ich manchmal ein oder zwei Tage lang nichts in den Magen bekommen. Er ist unser Engel“, sagt Eduardo Caltrone, ein 47-jähriger Immigrant aus Honduras, in gebrochenem Englisch.

Der Jorge, von dem Eduardo spricht, ist Jorge Muñoz. Seit mehr als 13 Jahren kommt er, oft zusammen mit seiner Schwester Luz, jeden Abend mit seinem weißen Pick-up-Truck an diese Straßenecke, den Wagen gefüllt mit warmen Mahlzeiten, Kaffee und Kakao – 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr.

Zu Muñoz’ üblicher Ankunftszeit um etwa 21.30 Uhr erwarten ihn die Männer bereits. Jorge und Luz bereiten die Essensausgabe vor. Als es dann so weit ist und die Mahlzeiten verteilt werden – es gibt Hühnchen mit Reis –, setzt die Freude ein. Viele haben schon lange nicht gegessen.

„Ich wüsste nicht, was ich ohne Columbia machen würde. Manchmal ist es das Einzige, was ich den ganzen Tag esse“, sagt Felipe Espanada, der seit Jahren hierherkommt. Den Spitznamen „Columbia“ haben die „Stammgäste“ Jorge in Anspielung auf sein Heimatland gegeben.

Anfangs bestand die Menge ausschließlich aus Latinos, inzwischen hat sich das geändert. „Meine ‚Kunden’ sind zum größten Teil immer noch Latinos, aber es kommen auch mehr und mehr Leute aus anderen Volksgruppen hierher. Uns ist es egal, woher die Menschen stammen. Wir helfen jedem, der Hunger hat. Er muss nur kommen“, sagt der 54 Jahre alte Muñoz, der tagsüber als Schulbusfahrer arbeitet.

„Als ich in den 80ern mit meiner Mutter aus Kolumbien hierherkam, hatten wir selbst sehr, sehr schwere erste Jahre. Jetzt habe ich einen sicheren Job, meine Familie und ein Haus. Als ich die Männer auf meiner Schulbusroute sah, konnte ich mich in sie hineinversetzten. Eines Tages entschied ich, dass ich etwas tun müsse.“

Muñoz begann sein ungewöhnliches Essensprogramm – das mittlerweile von seinem gemeinnützigen Verein „An Angel in Queens“ („Ein Engel in Queens“) betrieben wird – vor zehn Jahren, nachdem ein Freund ihm erzählt hatte, welch große Mengen an überschüssigen, verderblichen Nahrungsmitteln in dem Restaurant, wo er arbeitete, weggeworfen wurden. Er fragte andere Restaurants und Lebensmittelläden, ob sie ihm helfen würden, und viele waren von der Idee begeistert. Er fing an, die ihm gespendeten Lebensmittel dreimal pro Woche auszugeben. Der nächste Schritt war dann das Zubereiten warmer Mahlzeiten. Anfangs kochte er zuhause mit seiner Mutter täglich 20 Mahlzeiten. Die Anzahl stieg ständig, und im Moment verteilt Jorge jede Nacht durchschnittlich 140 Mahlzeiten. An Samstagen bringt er den Männern Frühstück, an Sonntagen Speck- und Käse-Sandwiches. Muñoz schätzt, dass er bisher etwa 90.000 Mahlzeiten verteilt hat. Er bezahlt sein Benzin aus eigener Tasche und kauft auch Lebensmittel von seinem eigenen Geld, wenn die Spenden nicht ausreichen.

„Einmal fragte Columbia mich, ob ich ihm bei der Beladung seines Trucks mit Essen vor seinem Haus helfen kann. Ich konnte es nicht glauben. Das ganze Haus war voller Nahrungsmittel, riesige Gefriertruhen, es gab kaum noch Platz, um dort zu leben. Jorge spinnt“, erzählt Carlos, ein mexikanischer Tagelöhner, mit einem Lachen, aus dem man seine Hochschätzung für Jorge spürt.

2006 rief Munoz die gemeinnützige Angel in Queens Stiftung ins Leben, um Menschen auch über die reine Essensausgabe hinaus zu helfen.

Die Arbeit am Wagen und mit der Stiftung, erlaubt der Familie neben ihren normalen Jobs praktisch keine Freizeit mehr erlaubt. Trotzdem ist die Muñoz-Familie jede Nacht zur Stelle. Dieser Aufopferungswille blieb auch Präsident Obama nicht verborgen, und im August 2010 zeichnete er Jorge Muñoz mit der Presidential Citizens Medal aus.

„Dass ich vor 8 Jahren die Medaille bekommen habe, war schön. Die Arbeit geht aber genau so weiter wie vorher. Wenn wir eine Nacht nicht kämen, würden wir uns schlecht fühlen“, sagt Jorge. „Die Leute brauchen uns doch, und uns macht es glücklich, dass wir helfen können. Es ist ein wunderbares Gefühl.“

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