Leiden viele Menschen in New York unter Einsamkeit, weil man in der schnellen harten Stadt nur schwer zwischenmenschliche Beziehungen aufbauen kann? Oder hat der New Yorker ein besonders reiches soziales Leben, weil so viele andere Menschen um ihn herum sind? Verallgemeinern kann man hier, wie so oft, wenn es um New York geht, nicht. Als jemand, der seit 25 Jahren hier lebt, meine ich: Es gleicht sich aus. Im Endeffekt sind die Art und Anzahl der Beziehungen, die der normale Mensch hat, dann wohl doch nicht so viel anders als anderswo. Dazu jedoch hat jeder New Yorker noch jemanden in seinem Leben, der manchmal Freund, manchmal Widersacher ist – New York selbst.
Die Autorinnen Anita Loos und Helen Hayes schrieben schon 1972 in ihrem charmanten Buch „Twice over lightly“ über das Leben in der Metropole: „Niemand muss jemals allein in New York sein, man ist allein mit New York.“ Die Stadt ist eine treue Gefährtin, die einem manchmal viel Freude macht, mitunter jedoch auch sehr unangenehm sein kann. Aber sie ist immer für ihre Bewohner da.
Als ich vor ein paar Jahren nach einem Liebes-Aus einige Wochen nicht schlafen konnte, merkte ich es. Ich wollte in diesen Nächten raus aus der Wohnung, mich ablenken, irgendwie rein ins Leben. Das wäre um zwei oder drei Uhr nachts in vielen Städten zumindest sehr schwer, in New York aber war es kein Problem.
Manchmal ging ich ins Haandi, ein indisches Restaurant in Murray Hill, in dem die Taxifahrer, meist aus Indien und Bangladesch, mitten in der Nacht pausieren und speisen. Nicht weit weg in Koreatown spielte ich oft nächtelang bei Space Billiards, das ganz versteckt im zwölften Stock eines Bürogebäudes untergebracht ist – Mitspieler findet man dort auch um drei Uhr nachts. French Roast, ein rund um die Uhr geöffnetes Café im Greenwich Village, ein paar U-Bahn-Stationen weiter unten, war dann oft mein nächster Stopp, um mich unter andere Nachtmenschen zu mischen.
Wenn man will, kommt man in New York überall mit Leuten ins Gespräch und zählt schnell zu den Stammgästen, besonders dann, wenn man zum rareren Nachtpublikum gehört.
Nicht alles, was man in der Nacht erlebt, ist schön – etwa die Obdachlosen zu sehen, die in Kühlschrankkartons schlafen, oder sich darüber klar zu werden, wie hart Leute wie die Taxifahrer für sehr wenig Geld arbeiten müssen. Aber es relativiert die eigenen Sorgen, wenn man selbst nicht ganz so schlimm dran ist.
Nach ein paar Wochen ging es mir besser und die Nachtwanderungen klangen ab. Allein mit New York zu sein war eine hilfreiche Therapie.