Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, wie viel Arbeit unabhängig vom Standort geleistet werden kann, insbesondere in den Sektoren, die vornehmlich vom Informationsfluss leben wie die Finanzindustrie. Dass man nicht unbedingt in ein Büro in New York gehen muss, um bei einer Wall Street Firma zu arbeiten, ist keine neue Erkenntnis, aber wie gut das auch im großen Stil klappen kann, hat viele überrascht. Den Unternehmen zeigten sich manche ganz ungeahnte Möglichkeiten auf.
Laut einer Studie, die von der ‘Partnership for New York’ – einer einflussreichen Vereinigung, die sich aus der Elite der örtlichen Geschäftswelt zusammensetzt und bei der mehr als ein Dutzend Beratungsfirmen mitarbeiteten – denken 20% der Wall Street Firmen darüber nach, große Teilen ihres Betriebs in andere Regionen der USA zu verlegen oder ganz umzuziehen. (Die Gruppe hat ein Interesse, diese Zahlen so hoch wie möglich erscheinen zu lassen, weil damit die Politik unter Druck gesetzt werden kann.)
Ziel Nummer 1 ist Florida, vor allem der Großraum Miami. Diesen Trend gibt es schon seit ein paar Jahren, aber er hat mit der Pandemie viel Fahrt aufgenommen. Niedrigere Betriebs- und Lebenshaltungskosten und ein angenehmer Lifestyle mit Stränden und Sonne sind Argumente für den Sunshine State. Angestellten bleibt auch circa 10% mehr Nettogehalt, weil der Staat Florida im Gegensatz zu New York keine eigene Einkommenssteuer hat und auch die Firmensteuern sind niedriger. Überhaupt wird Florida bei vielen als mehr ‘business-friendly’, wie man hier sagt, angesehen als der Big Apple. Die Anbindung Miami – New York ist auch nicht schlecht, 3 Stunden Flugzeit ohne lästige Zeitverschiebung.
Obwohl Miami weltweit vor allem für Strände und Hedonismus bekannt ist, gibt es hier mit Brickell eines der größten Geschäftsviertel der USA. Dort ist auch der Großteil der Finanzbranche ansässig. (Miami und Miami Beach sind zwei verschiedene Orte, getrennt durch die Biscayne Bay. Brickell ist in Miami). Die Region hat auch eine der höchsten Konzentrationen von Reichtum in Amerika und der Welt und ist so sicher auch ein guter Ort, um neue Kunden zu akquirieren.
Die Hedgefonds-Milliardäre und gebürtige New Yorker Paul Singer und Carl Icahn haben ihre jeweiligen Unternehmen Elliott Management und Icahn Enterprises schon ganz in den Raum Miami verlagert. JP Morgan Chase, das größte Finanzunternehmen der USA, und Investment Banking Gigant Goldman haben Pläne, Abteilungen dort hin zu verlegen. Blackstone und Citadel, zwei der größten US-Fonds, eröffneten kürzlich große Büros hier. Die Deutsche Bank hat schon seit ein paar Jahren ihre zweitgrößte US-Präsenz in Jacksonville, Florida und soll Gedanken haben, diese zu vergrößern.
Das verheißt nichts Gutes für New York, denn Jobs und Steuereinnahmen fallen weg. Restaurants, Shops und andere Unternehmen, die einen erheblichen Teil ihrer Einnahmen durch Leute, die im Finanzsektor arbeiten, erwirtschaften und schon unter den Auswirkungen der Pandemie leiden, werden die Folgen auch spüren.
Darüber, dass die Finanzunternehmen die Wall Street verwaisen lassen werden und Miami den Big Apple als das wichtigste Finanzzentrum der USA ablösen wird, muss man sich trotz dieser News aber erst einmal keine Sorgen machen. Zu tief sind die Wurzeln New Yorks in dem Geschäft. Immer noch wollen die Besten in der Branche hier arbeiten und die meisten der etablierten Leute nicht weg. Bei der Anzahl der Jobs, Umsatz und den anderen wichtigen Metriken befinden sich Miami und New York noch in vollkommen anderen Größenordnungen. Goldman Sachs soll beispielsweise um die 5.000 qm Bürofläche in Miami haben, verglichen mit den 200.000 qm, die die Firma in New York einnimmt.
Auch Florida hat seine Probleme. Der Lifestyle mag angenehm sein, aber die Leute, die New York gewohnt waren, werden die aufregende, interessante Stadt mit Weltklassekultur sicher oft vermissen. In Südflorida gibt es katastrophale Hurricanes, und die Region ist vom Anstieg des Meeresspiegels so stark gefährdet wie kaum ein anderer Ballungsraum der Erde. Und mag die Zukunft New Yorks derzeit ungewiss sein, glauben viele Optimisten, dass sich in den nächsten Jahren, nachdem man das Virus in den Griff bekommen hat, eine noch dynamischere, lebendigere und lebenswertere Stadt entwickeln wird.
New York wird bis auf weiteres die wichtigste Finanzmetropole der USA bleiben, aber hat von Miami einiges an ernst zu nehmender Konkurrenz bekommen.