Am 16. September 1920, als Hunderte Büroangestellte, Makler und wer sonst noch so an der Wall Street arbeitete, zum Mittagessen unterwegs waren, explodierte eine Bombe. Sie war in einem Pferdewagen, der vor dem Sitz von J.P. Morgan & Co. dem größten Geldinstitut der USA, stand, versteckt.
Die Detonation, an der Ecke Wall Street und Broad Street in New Yorks Financial District, war im ganzen Südteil Manhattans und sogar auf der anderen Seite des East River in Brooklyn zu hören. Die verrauchten Straßen waren mit Leichen, Verletzten und Trümmern übersäht.
Es war der bis zu diesem Zeitpunkt tödlichste Terroranschlag in der amerikanischen Geschichte und blieb es, bis Timothy McVeigh 75 Jahre später das Alfred-P.-Murrah-Regierungsgebäude in Oklahoma City durch einen Bombenanschlag zerstörte.
Dreißig Menschen starben sofort, acht erlagen später ihren Verletzungen umd mehr als 300 wurden verletzt. Der Boss von J.P. Morgan, William Joyce, der am Fenster seines Büros gesessen hatte, war unter den Todesopfern, Junius Morgan, Enkel des Gründers von J.P. Morgan, wurde schwer verletzt.
Die in unmittelbarer Nähe gelegene Börse wurde sofort geschlossen. Polizei und Soldaten halfen den Verletzten, bewachten den Tatort und suchten nach Beweisen. Es stellte sich heraus, dass eine aus TNT und eisernen Fensterteilen hergestellte Bombe verwendet wurde. Sie wurde mit einem Timers gezündet, nachdem die Täter den Tatort verlassen hatten.
Überraschenderweise bekannte sich niemand zu dem Anschlag und so konnte über das Motiv nur spekuliert werden. Eine Möglichkeit war, dass J.P. Morgan Jr. ermordet werden sollte. Er war der Sohn des gleichnamigen, sieben Jahre vorher verstorbenen Gründers des gewaltigen Geldinstituts, aber er hielt sich zur Tatzeit in Europa auf, was öffentlich bekannt war. Eine andere Überlegung war, dass die Täter Chaos anrichten wollten, um es zu nutzen, um das angrenzende “Sub-Treasury” Gebäude zu überfallen, in dem an diesem Tag eine immense Menge Goldbarren verlegt wurden (das Gebäude im Foto ganz oben mit der Statue von George Washington).
Es wurden äußerst aufwendige Untersuchungen durchgeführt, bei der alle zu dieser Zeit verfügbaren Mittel zum Einsatz kamen, unter anderem befragten Detektive jeden amerikanischen Hersteller und Händler, der mit der Art von Fensterteilen, die Teil der Bombe waren, zu tun hatten, auch 500 Ställe entlang der Atlantikküste wurden besucht, alles ohne Erfolg.
Der profesionelle Tennisspieler und Anwalt Edwin P. Fischer, zog die Aufmerksamkeit der Ermittler auf sich. In Korrespondenz mit Freunden und Gesprächen mit Fremden hatte er genau für Mitte September 1920 eine Explosion an der Wall Street vorhergesehen. Es stellte sich heraus, dass Fischer häufiger Patient in psychiatrischen Kliniken war und als zudem klar wurde, dass der Mann am Tattag in Kanada war, wurden seine Äußerungen als zufällig eingetretene Wahnvorstellungen verworfen.
Verdacht fiel auch auf die Roten“, Anarchisten und Sympathisanten des Kommunismus, deren Motiv es gewesen sein könnte, Symbole des amerikanischen Kapitalismus zu zerstören. Tatsächlich wurde ein Stapel anarchistischer Flugblätter in einem Briefkasten einen Block von der Wall Street entfernt gefunden. Unter anderem wurde Pietro Angelo, ein italienischer Staatsbürger, der schon mit anderen anarchistischen Bombenanschlägen in den USA in Verbindung gebracht wurde, befragt, er konnte aber ein plausibles Alibi vorweisen.
Trotz der aufwendigen Untersuchungen und der Befragung von Tausenden Menschen konnte nie zweifelsfrei ermittelt werden, wer hinter dem Anschlag stand. Der Fall wurde 1944 offiziell zu den Akten gelegt.
Viele Historiker glauben, dass es am wahrscheinlichsten ist, dass Pietro Angelos Kameraden, eine Gruppe italienischer Anarchisten, die als Galleanisten bekannt waren, hinter der Tat steckten. Die Extremisten benannten sich nach Luigi Galleani, einem Schriftsteller, Aufstandsführer und Sprengstoffexperten der Anarchisten weltweit inspirierte.