Es gibt eine Geschichte über einen New Yorker, der nach 20 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird und Manhattan so verändert vorfindet, dass er es nicht mehr wiedererkennt. Die Gefühle, die die Menschen dieser ständigen Erneuerung entgegenbringen, sind gemischt – sie symbolisiert Vitalität, aber auch eine Art Wurzellosigkeit, den Verlust von Bezugspunkten. Die Gegend, in der man seit ein paar Jahrzehnten wohnt, wird zum Trendviertel, die alte Stammkneipe macht zu und wird von einer hippen Lounge ersetzt, Freunde ziehen weg, weil die Mieten zu hoch werden. Nirgends sieht man diese Entwicklung extremer als in einer Straße mit dem ungewöhnlichen Namen ‘The Bowery’ (man erkennt Nicht-New Yorker daran, dass sie ‘Bowery Street’ oder nur ‘Bowery’ sagen).
The Bowery, die schon von den Manhattaner Ureinwohnern, den Lenape-Indianern, angelegt wurde, hat eine der längsten Geschichten unter den Straßen New Yorks. Zu holländischen Kolonialzeiten im 17. Jahrhundert haben die Bewohner die bowerij benutzt, um von Fort Amsterdam an der südlichen Spitze Manhattans zum Anwesen von Peter Stuyvesant zu kommen. Stuyvesant, der die Region, die damals Nieuw Nederland hieß, als General-Direktor für die Niederländer verwaltete, war 250 Jahre vor Rudy Guiliani schon als Aufräumer bekannt – als jemand, der Ordnung in die Siedlung brachte, aber auch jemand, zu dessen Amtszeit sie an die Engländer verloren ging.
Die nächsten Generationen fanden idyllische Zustände vor, man sah hier fruchtbare Ländereien, schöne Häuser und prächtige Bäume. Im frühen 18. Jahrhundert siedelten sich dann Theater an, die Menschen aus allen Gegenden New Yorks hierherführten. Nach dem Bürgerkrieg wurden die Theater durch Jahrmarktbühnen mit Schwertschluckern, Löwenbändigern, Zwergen und burlesken Tänzern ersetzt, die damals in Mode kamen.
Der Niedergang der Bowery begann im Jahr 1878 beim Bau der Hochbahn. Entlang der Route tropfte ständig heißes Öl von oben herab und machte eine Passage für Fußgänger sehr unerfreulich. Die Museen und Theater packten alsbald ihre Sachen, nichts anderes trat an ihre Stelle, und The Bowery verwahrloste nach und nach. Diese Veränderung zum Negativen wurde auch dadurch begünstigt, dass die Straße am südlichen Ende an Five Points grenzt – eine arme Gegend, die für ihre Bordelle, Bars und Biergärten bekannt ist. Hier beherrschten Gangs die Szene und die meisten Stadtbewohner mieden die Bowery, die durch die Ansiedlung von schäbigen Häusern ihren Ruf als Pennergegend weghatte. Martin Scorcese hat diese Atmosphäre in seinem Film Gangs of New York gut eingefangen.
In der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts siedelten sich dann immer mehr Heime für meist alkoholkranke Obdachlose an. The Bowery wurde so zum Symbol des ultimativen Abstiegs, zu einer Endstation. Der wird auf The Bowery enden, hieß es von jemandem, dessen Zukunftsaussichten man als sehr trübe einschätzte. Jahrzehnte lang wurde allein das Wort ‘Bowery’ nicht nur in New York mit Pennerleben gleichgesetzt. Der miserable Ruf der Bowery führte dazu, dass es in den 1950er und 1960er Jahren eigene Touren für Neugierige aus anderen Teilen der USA gab. Im Winter starteten diese Touren erst, nachdem Polizeipatrouillen sicherstellten, dass keine Leichen von erfrorenen Obdachlosen auf der Straße lagen. Weiter weg als auf The Bowery konnte man von der konformistischen Kleinbürgerlichkeit, die das Leben in weiten Teilen der USA zu diesem Zeitpunkt bestimmte, kaum irgendwo sein.
Die Andersartigkeit zog dann auch viele Künstler an, von denen einige später – wie etwa der Schriftsteller William Burroughs, der Maler Mark Rothko und die Fotografin Nan Goldin – zu Weltruhm gelangten. Im Jahre 1970 hat Paul Morrissey für das Werk Trash von Andy Warhol dieses Viertel für immer auf Celluloid gebannt. In dieser Zeit nahm auch die amerikanische Punkbewegung im Musikclub CBGB auf der Bowery ihren Anfang und die Karrieren von später weltbekannten Bands wie Blondie, den Ramones oder Talking Heads begannen hier. 2006 musste der legendäre Club zumachen, weil er sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten konnte.
Und 2024? Heute ist The Bowery – nachdem sie in den 1990er Jahren von jungen Trendsettern wiederentdeckt wurde – eine der coolsten und teuersten Adressen in ganz New York – mit entsprechend hohen Mieten, teuren Boutiquen, schicken Restaurants oder dem New Museum, dem teuersten Museumsneubau seit Jahrzehnten. Große Teile der alten Bevölkerung sind nach und nach verschwunden, und obwohl es noch einige Obdachlosenheime gibt, sind heutzutage mehr europäische Touristen hier zu sehen, die mit Einkaufstüten beladen in eins der neu entstandenen hochpreisigen Designerhotels zurückkehren, als Penner, die The Bowery einmal charakterisierten.